Das sogenannte „Armenhaus“ war 1844/45 von den Winninger Eheleuten Johann Anton und Wilhelmina Elisabeth Knaudt erbaut und der evangelischen Gemeinde gestiftet worden. „Den 15. Juni (1845) wurde das Armenhaus eingewiehen“, steht in einem zeitgenössischen Manual. Die Konzeption bestand aus sechs Kleinwohnungen, diese hatten jeweils ein Zimmer und eine vorgelagerte Küche, die zugleich Eingangsraum war. Die Wohnungen waren an einem Hofgang aufgereiht, auf der gegenüberliegenden Seite hatte jede Wohnung einen , rauhen Raum“ als Abstellraum, vor allem zur Aufbewahrung des Brennholzes, zuweilen auch als Ziegenstall benutzt. Ein gemeinsamer Abort lag am Hofeingang.
Dies Armenhaus“ ist vielleicht das originellste Projekt in der Winninger Gemeindegeschichte. Der Nutzungszweck ist in der ausführlichen Stiftungsurkunde’7 vom 14. Juni 1845 formuliert: „Da uns nun Gott nicht mit Kindern, aber doch mit zeitlichem Vermögen gesegnet hat, so haben wir uns entschlossen, eine Stiftung für hiesige evangelische Hausarmen zu begründen“ („… so schenken wir hiermit das von uns erbaute, am Herrenweg gelegene,“ (…) unter dem Nmen Armenhaus dem Almosenfonds der hiesigen evangelischen Pfarrgemeinde zu bleiben dem unveräußerlichem Eigentum, und haben gegenwärtige für alle Zeiten gültige Urkunde über se unsere Stiftung ausgestellt und unterschrieben.“ Und weiter heißt es: „Es sollen darin bedürftige evangelische Familien freie Wohnung erhalten, (…) Die Freiwohnungen sind zunächst für Familien bestimmt, sollten aber […) noch Wohnungen leer stehen, so sind auch ledige Personen aufzunehmen, die sich aber gefallen lassen müssen, je zwei und zwei in einem Zimmer zu wohnen“.
Bereits kurz nach der Einweihung wurden sechs Wohnungen von sieben Mitbürgern bezogen. Zugleich war dies ein intelligentes, sich selbst tragendes Projekt: Eine Sandwich-Konzeption um das Erdgeschoß mit den sechs kleinen Wohnungen. Mit dem darunter liegenden Weinkeller, damals dem größten in Winningen, und dem darüber liegenden Speicher, als Strohlager für die Landwirte, wurden genügend Pachteinnahmen erwirtschaftet, um die Folgekosten und das mietfreie Wohnen des Sozialprojekts dauerhaft zu finanzieren. Johann Anton Knaudt war selbst Presbyter. Er hat über der Kellertür neben seinen Initialen die Bibelstelle einmeißeln lassen, die für die Motivation des Stifterpaares steht: Jes. 58,7 („Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend sind, führe ins Haus“).
Die Architektursprache kann als äußerst sachliche Verwendung Klassizistischer und historisierender Elemente verstanden werden. Sechs Rundbogenfenster mit Basaltgewände in ebenfalls rundbogigen, bis zum Sockel durchgehenden Mauernischen und entsprechende kleine rundbogige Kellerluken. Ein ganz rationaler Formenkanon mit hohem ästhetischem Anspruch, der zur Rationalität des Grundrisses passt, bildet die Hauptfassade zur heutigen Fährstraße hin.
Auch wenn mangels Aktennachweis der Architekt nicht bekannt ist, kann nach Zeit(geist) und Gestaltungsdetails auf Einflüsse durch die Lassaulx’sche Architektur geschlossen werden.
Im Jahre 1929 entschloss man sich, anstelle der Schreinerwerkstatt einen größeren Gemeinderaum einzurichten. Dieses „Sälchen“ entsprach einem dringenden Bedarf der Gemeinde, nachdem der Plan, neben dem ersten Pfarrhaus einen Saal zu platzieren, aus finanziellen Gründen aufgegeben worden war. Zur besseren Belichtung wurde zur Straße hin ein breites Rundbogenfenster und zum westlichen Nachbargrundstück hin ein Oberlicht eingebaut. Das Sälchen wurde Jahrzehnte lang von den verschiedenen Jugendgruppen, der Evangelischen Frauenhilfe, dem Kirchenchor und für den Katechumenen- und Konfirmandenunterricht genutzt.
Nachdem 1953 das große Gemeindehaus in der oberen Fährstraße gebaut war, wurde das Armenhaus-Sälchen nicht mehr gebraucht und (1964) zu einer zusätzlichen Wohnung gemacht.Bei dieser Gelegenheit fand eine erste Renovierung des Armenhauses statt. Unter anderem bekam jede Wohnung einen eigenen Wasseranschluss mit Spülbecken und Abfluss. Bis dahin gab es für alle Hausbewohner nur einen einzigen Wasserhahn neben der Pforte. Und in das Nebengebäude im Hof wurden separate Toiletten für jede Wohnung eingebaut. Anfang der 1980er Jahre stand das Armenhaus nahezu leer, die Wohnverhältnisse waren hinter der Zeit zurückgeblieben. Zuschnitt, Größe und Ausstattung der Wohnungen waren nicht mehr akzeptabel. Erste Testentwürfe für einen Umbau zu zeitgemäßen Altenwohnungen entstanden im Wintersemester 1981/82. Studenten der Koblenzer Fachhochschule machten eine präzise Bauaufnahme und entwickelten erste Ideenkonzepte. Die Kirchengemeinde beschloss daraufhin die Erhaltung und Modernisierung; nicht zuletzt, um dem eindeutigen Stiftungszweck weiterhin Rechnung zu tragen. Die Konzeption wurde 1983 von dem Architekten Friedrich Hinzmann konkretisiert, in liebevoller Weise umgesetzt und 1984 fertiggestellt.
Inzwischen ist das Anwesen in Privatbesitz übergegangen.
(Quelle – Auszüge- aus: Peter Lammert – Städtebauliche Entwicklung und architektonische Merkmale -Winningen -Beiträge zur Ortsgeschichte)