Der Zehnthof

1174 wird anlässlich der Übertragung des Einsetzungsrechtes der Hofschultheißen auf den Stiftshöfen Traben und Kesselheim erstmals Besitz des Marienstifts Aachen in Winningen genannt (pactum vero de Keszelheim et eius appenditio Winningen“). Die Winninger Besitztümer sind wohl damals von Kesselheim aus verwaltet worden. Doch schon 1180 können die „fratres Aquanes“ (Brüder des Marienstiftes Aachen) ihren Besitz erweitern, als sie nach einem Güterstreit mit den Augustinerchorherren zu Lonnig durch Vermittlung des Trierer Erzbischofes Arnoldus I. (1169-1183) einen Hof mit einem Weingarten erhalten. Es ist anzunehmen, dass dieser Hof gleichbedeutend mit dem Zehnhof ist.

Neben dem Eigenbesitz von Hof und zwei Morgen Weingärten stand dem Marienstift der sogenannte Zehnte zu, d.h. der zehnte Teil der gelesenen Trauben bzw. Feldfrüche. Diese waren auf dem Zehnthof abzuliefern. Möglicherweise geht der Besitz und das Recht, den Zehnten einzuziehen, auf eine Schenkung König Zwentibolds (895-900) zurück. So ist es zumindest einer Bestätigungsurkunde aus dem Jahre 1226 zu entnehmen. Ein Großteil des Ertrages wendete das Stift als Patronatsherr der Kirche zur Unterhaltung der Gebäude wie auch zur Bezahlung der Pfarrer auf. Diese Pflichten hatte man als Zehntherr auch nach Einführung der Reformation im Jahre 1557 weiterhin zu tragen.

Der im „Orsdorff“ gelegene Hof war, wie allgemein üblich, an so genannte Hofpächter oder Hofmänner verpachtet, die gegenseitigen Rechte und Verpflichtungen in Verträgen genau festgelegt. So wissen wir von Peter „Uoeff“ (oder „Vorff“), der 1475 auf 12 Jahre mit dem Hofgut belehnt wurde, dass er jedes Jahr im Herbst den Herren „ziemliche Bettung und Hausrat“ geben soll, darüber hinaus das Haus instandhalten und zwar „soviel ein Mann in 2 Tagen machen kann“. Die den Herren eigenen Weingärten soll er auf eigene Kosten bebauen und ihnen jährlich 5 Ohm von den besten Weinen liefern. Auch soll er von dem „auf dem Berg fallenden Früchtezehnten“, der dem Stift zur Hälfte zusteht, 4 Malter Korn und 3 Malter Hafer „zu Sankt Remeygnisse“ liefern. Hält der Hofmann alles „getreulich“ ein, erhält er vom Stift jährlich „5 Ellen Tuch zu einem Rock“.

 

In ähnlicher Form sind 1546 Thiel Reuter, 1549 Johann Mulner, 1672 Hans David Hofbauer,1688 Jeremias Hofbauer und 1758 Philipp Anton Gail mit dem Hofgut belehnt worden. Die Belehnungsurkunden weisen eine Besonderheit auf. Als Zehntherr hatte man gegenüber der gesamten Gemeinde die Verpflichtung, einen Stier zu halten. Diese Verpflichtung war dem Hofpächter übertragen worden.

Bereits seit 1549 findet sich in den Belehnungsurkunden der Passus, dass der Pächter auch einen Stier „wie von alters“ her gebräuchlich zu stellen, „unnd denselben auff Seine Kosten halten“ solle. Im Herbst hatte er den Stier zu schlachten und die Zehntträger damit zu verköstigen. Sollte er von der Gemeinde gezwungen werden, noch einen zweiten „Ochsen zu behoeft dess Viehes zu heuren (hier im Sinne von: unterstellen], so solle er beständig solchen Ochsenheur verrechnen, unnd ein Mitr. [Malter] haber (Hafer] jährlichs zu Unterhaltung des Ochsens geniessen“.

Dass die Zehntträger und alle sonst Beteiligten nach der Weinlese nicht nur anständig gegessen, sondern auch getrunken haben, ersieht man aus einer Notiz des Jahres 1787, als 9 Zehntträger in gut 10 Tagen 9 Ohm Wein (1.440 Liter) vertranken. Bei dieser Menge sind sie wohl von vielen Winningern „unterstützt“ worden. 

Der „Aachener Zehnthof* wird im Jahre 1779 als ein zweistöckiges Wohnhaus mit Kelterhaus und Stallung beschrieben. Um 1796 ist Christian Müden Pächter. Im Zuge der Versteigerung durch die französische Domänenverwaltung im Jahre 1805 kommt der Hof in Besitz von Winninger Bürgern. Anfang der 1960er Jahre drohte der Abriss des ruinösen Anwesens. Durch eine grundlegende Renovierung konnte dies abgewendet werden, so dass der „Zehnthof auch heute noch als das älteste Wohngebäude Winningens gilt.

Mit den wenigen verbliebenen Doppelarkaden-Fenstern ist er ein wertvolles Zeugnis der spätromanischen Architektur.

Der ehemalige Zehnthof befindet sich heute in Privatbesitz.

Quellenauszüge: Rainer Garbe – Winningen – Beiträge zur Ortsgeschichte

Grundriss Zehnthof